Diese Zusammenführung von Überlegungen Bauers aus den 1940er bis 1960er Jahren, herausfordernd und programmatisch betitelt als «Stammbuch – Geistliches Tagebuch», bietet eine Analyse von Religion in ihrer Bedeutung für das aktuelle Weltgeschehen. Für Bauer war dies konkret die Epoche des Endes des Zweiten Weltkriegs und Übergangs in den so genannten «Kalten Krieg» im Schatten der Atombombe. Auf einzigartige Weise dechiffriert er – ursprünglich für einen kleinen Kreis enger Vertrauter und Gleichgesinnter – die jüdisch-christliche Bibel als existentiellen Schlüssel zum Verständnis gesellschaftlicher und weltpolitischer Prozesse überhaupt.
Bauers radikales Glaubensverständnis eröffnet eine neue, kritische Sicht auf die Themen Eschatologie und Apokalypse, auf extremes Leid wie den Tod und vermeintliche oder tatsächliche Auswege daraus, auf Fehlentwicklungen und Krisen der Gesellschaft ebenso wie auf mögliche Alternativen. Ihm zufolge sind wir nicht mehr in der Situation vor, sondern bereits «nach der Katastrophe». Verblüffende Aktualität erweisen seine Gedanken zum Phänomen der Migration und Emigration als Wege ins Unbekannte, zum Überhandnehmen unpersönlicher und entmenschlichter Strukturen durch Technik und politische Institutionen, zur Hochrüstung und Rolle der Gewalt in der Weltpolitik.
Das persönliche Antreten der christlichen «Sohnschaft» und Tochterschaft fordert Bauer als emanzipierte Form von Religion ein, die allein noch ein authentisches Leben ohne Vereinnahmung durch Ideologie oder erpresste Vernunft ermögliche. Dafür müsse das Heil der je Anders- oder Nichtgläubigen angestrebt, die Spannung zwischen Aussonderung und «Gemeinde» aktiv gelebt werden. Entscheidend sei die Unterscheidung der agierenden Geister zwischen Heiligem Geist und Dämonie: Entgegen den faktischen, in allen Extremen offenbaren inhumanen Schrecknissen, Bedrohungen und Abgründen bis zur atomaren Selbstvernichtung, entgegen Pessimismus und Nihilismus könne so am Gedanken einer Zukunft der Menschheit, im Verbund mit der zu befreienden Natur als göttlicher Schöpfung, gerade noch festgehalten werden.
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Alle hier vorgelegten Schriften werden erstmals aus dem Nachlass publiziert. Neben dem Haupttext «Stammbuch» mit seinen acht Kapiteln enthält der Band fünfzehn fortführende Texte und Kapitel zum Thema Sohnschaft-Tochterschaft bzw. «Drittes Testament» und zum nicht mehr realisierten «Zweiten Stammbuch» im Zeichen der «Zerstreuung» bis Ende der sechziger Jahre, außerdem Einleitung, Editionsbericht, Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Bibelstellenindex und Namenregister.
Die dreibändige Ausgabe bietet eine kommentierte Auswahl der Schriften des «kleinen» Otto Bauer (1897–1986), der den Bund der religiösen Sozialisten Österreichs mitbegründete. Die Auswahl reicht von den frühen Artikeln der 1920er Jahre bis zu Texten, die nach 1938 vor allem im amerikanischen Exil entstanden sind. Die Texte blieben mit Ausnahme der Zeitschriftenartikel der 1920er und 1930er Jahre bisher unveröffentlicht und werden hier erstmals aus dem Nachlass publiziert. Inhaltlich erstrecken sich die Texte dieser Auswahl in weitem Bogen von politischen Analysen, Debattenbeiträgen sowie kulturkritischen Abhandlungen hin zu stark biblisch inspirierten existenzphilosophischen, religiösen und apokalyptischen Texten.
Die drei Bände werden auch als E-Books gemäß open access der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
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Josef Giefing studierte Philosophie, Politikwissenschaften, Theaterwissenschaften und Molekularbiologie in Wien und Tübingen und arbeitet in der Umweltanwaltschaft der
burgenländischen Landesregierung.
Wolfgang Palaver ist seit 2002 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck und seit 2019 Präsident von Pax Christi Österreich.
Cornelius Zehetner lehrt Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Wien und ist Präsident der Gesellschaft für Phänomenologie und kritische Anthropologie.
Mitwirkende
Bauer, Otto